Seit die Spanische Grippe vor über 100 Jahren wütete, wissen wir: Es kommen diejenigen Länder und Regionen wirtschaftlich am besten durch eine Pandemie, die das Virus am schnellsten und wirksamsten eindämmen. Das bestätigt sich in der aktuellen Krise. Wer wie die ostasiatischen Staaten, Neuseeland aber auch Finnland oder Deutschland am wenigsten Infizierte, Kranke und Tote zu beklagen hat, hat auch am wenigsten wirtschaftliche Schäden. Einen Gegensatz zwischen Gesundheit und Wirtschaft gibt es nicht. Voraussetzung für den Erfolg sind neben raschen und entschlossenen gesundheitlichen Massnahmen auch schnelle, unkomplizierte und vor allem grosszügige Staatshilfen. Für Arbeitnehmende, Selbstständige, Institutionen und Unternehmen. Das bestätigen praktisch alle Ökonominnen und Ökonomen. Jeden Franken, den wir als Staat jetzt in die Pandemiebekämpfung und in die wirtschaftliche Stützung stecken, sparen wir uns mehrfach bei den gesundheitlichen und sozialen Folgekosten. Die «Güterabwägung» zwischen Gesundheit und Wirtschaft, die Bundesrat Ueli Maurer gebetsmühlenartig beschwört, existiert in Wahrheit nicht.
Doch in Bern dominieren in der zweiten Welle diejenigen, die das nicht begreifen. Ihre Angst vor neuen Schulden führt uns ins gesundheitspolitische Verderben. Viele der 1117 Toten der letzten zwei Wochen hat man in Kauf genommen, weile man keine gesundheits- und wirtschaftspolitischen Massnahmen ergreifen wollte. Die Mehrheit im Nationalrat hat letzte Woche den dringend notwendigen Teilmieterlass für Gastronomie und Gewerbe abgeschossen. Bei den Härtefällen hat man geknausert. Menschen mit kleinem Einkommen erhalten bei der Kurzarbeitsentschädigung immer noch nur 80% ihres ohnehin zu tiefen Lohns. Und Ueli Maurer wird nicht müde zu behaupten, noch einmal so viel Staatshilfe könnten wir uns «nicht leisten». Die Schulden müssten wir «möglichst schnell wieder zurückzahlen». Als ob die Bundesbuchhaltung wichtiger wäre als die Gesundheit der Bevölkerung und die Sicherung von Existenzen. Ueli Maurer irrt aber auch finanzpolitisch. Wir können uns viele weitere Milliarden leisten. Problemlos.
Bund, Kantone und Gemeinden hatten 2019 Schulden in Höhe von 26% der Wirtschaftsleistung. Das ist im internationalen Vergleich lächerlich tief. Der Durchschnitt in Europa liegt bei über 80%. Alles unter 60% gilt als sehr tief. Neue Schulden kosten uns im Moment nichts. Dank negativer Zinsen wird der Staat sogar bezahlt fürs Schuldenaufnehmen! Ein Land mit einer leistungsfähigen Wirtschaft muss diese neuen Schulden faktisch gar nie zurückzahlen. Er wächst aus ihnen heraus, sobald die Krise vorbei ist und die Wirtschaft wieder brummt.
Wegen der Pandemie gehen Unternehmen zugrunde und Arbeitsplätze verloren. Ein Staat mit Zugang zu gratis Kapital wie die Schweiz darf das nicht hinnehmen. Statt so zu tun, als ob die gesundheitlichen Massnahmen Schuld an der Misere hätten, müssen wir endlich handeln. Mit einem viel besseren Gesundheitsschutz, der die Infektionen merklich reduziert. Und mit mehr und grosszügigeren Hilfen für alle betroffenen Menschen und Branchen. Wir schützen unsere Wirtschaft nicht, indem wir die Gesundheit opfern. Wir schützen sie durch grosszügigere finanzielle Hilfe. Dafür müssen wir nur etwas mehr Gratis-Schulden aufnehmen. Warum tun wir es nicht?
Dieser Text ist am 9. Dezember 2020 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.