Der New Yorker Verkehrsexperte Lewis Mumford wusste schon vor 70 Jahren: Mehr Strassen bauen ist wie «seinen Hosengürtel öffnen, um Übergewicht loszuwerden.» Wer die Strassen ausbaut, schafft mehr Verkehr. Das ist wissenschaftlich belegt, wie auch der Schweizer Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes kürzlich bestätigte: «Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten».
In der Fachsprache heisst das Phänomen «induzierte Nachfrage». Eine Vergrösserung des Angebots führt dazu, dass wir das erweiterte Angebot stärker nutzen als vorher – so dass die Nachfrage bald noch grösser wird als das vergrösserte Angebot.
Die Schweizer Bevölkerung wusste das schon 1994. Damals nahm sie gegen den Willen von Bundesrat und Parlament der Alpeninitiative an und verbot so den Ausbau der Transitstrassen-Kapazitäten in den Schweizer Alpen. Die Mechanismen am Gotthard und am San Bernardino sind die gleichen wie am Gubrist und am Baregg – und wir alle können sie beobachten. Zusätzliche Spuren verschieben den Stau kurzfristig zu neuen Engpässen und ziehen mittelfristig noch mehr Autos und Lastwagen an. Das Problem wird verschärft statt gemildert. Abwegig ist darum auch die immer wieder auftauchende Forderung, dass man die beiden Gotthardröhren nach dem Bau der zweiten Autobahnröhre vierspurig befahren sollte. Die Schweizer Bevölkerung wird die Verfassung nicht ändern, damit wir am Gotthard – und in der Folge auch am San Bernardino – noch mehr Verkehr und Stau bekommen.
Umso unverständlicher entscheidet die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat: Gegen die die Stimmen von SP, Grünen und Grünliberalen hat sie über 5 Milliarden Franken für den Ausbau des Nationalstrassennetzes in den Regionen Bern, St. Gallen, Basel, Schaffhausen und Genfersee beschlossen. Genauso unverständlich ist die Ankündigung des Bundesrats, dass er einen Ausbau der Strecken Bern-Zürich und Lausanne-Genf auf sechs Spuren anstrebt.
Glauben die Bürgerlichen in Bern der Wissenschaft nicht? Verstehen sie das Prinzip der induzierten Nachfrage nicht? Oder ist die Strassen- und Autolobby einfach so mächtig, dass sie Fachargumente einfach in den Wind schlägt?
Letztlich wird die Stimmbevölkerung entscheiden, ob wir uns aus der Logik des ewigen Straussenausbaus und ebenso ewigen Staus befreien. Im Interesse unserer Lebensqualität, des haushälterischen Umgangs mit unserem Boden und des Klimaschutzes sollten wir es unbedingt tun.
Wir sollten den Anteil des Autoverkehrs reduzieren und mehr Mobilität auf den ÖV für längere und auf das Velo für kürzere Strecken verlagern. Damit wir die vorhandenen (grossen!) Strassenkapazitäten optimal nutzen und Staus vermeiden, müssen wir zudem die Verkehrsspitzen brechen. Ein effizientes und intelligentes System der Verkehrssteuerung sowie eine moderne Arbeitsorganisation mit flexibleren Arbeitszeiten können helfen. Nutzen wir also die Chancen der Digitalisierung und denken wir über eine faire Bepreisung des Strassenverkehrs nach. Kurz: Wagen wir mehr Intelligenz statt Beton!
Dieser Text ist am 28. Juni 2023 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.