Den 1. August feiern heisst die Schweiz feiern – unsere Vielfalt, unsere Werte, unsere Errungenschaften. Wir erzählen uns Mythen und Geschichten zum Werdegang unseres Landes. Wir betonen Grundsätze unserer Willensnation wie Freiheit, Gemeinsinn, Demokratie.
Diese Tradition ist trotz den konstruierten Mythen um das Rütli wertvoll. Gerade weil an den meisten Orten unseres Landes eine sehr pragmatische Heimatliebe gelebt wird. Wir mögen unseren Bundesstaat und wir schätzen – meistens – seine insgesamt gut funktionierenden Institutionen und Leistungen. Diese pragmatische Sicht auf unsere Nation ist eine Stärke der Schweiz.
Aber wie alle Nationen müssen auch wir aufpassen, nicht einem dumpfen «Hurra-Patriotismus» zu verfallen. Denn er würde uns nur den Blick für reale Herausforderungen vernebeln. Darum begehen wir den 1. August lieber mit Offenheit gegenüber der Zukunft als mit rückwärtsgewandten Switzerland-First-Parolen. Das ist gesunder Patriotismus. Einstehen für eine bessere Schweiz, in der wir alle gerne leben – und die wir alle lieben können.
Teil dieses gesunden Patriotismus ist auch eine kritische Haltung. Sie sorgt dafür, dass wir genau hinschauen, wo unsere Vergangenheit nicht so ehrenhaft war oder wo es heute noch Ungerechtigkeiten oder Defizite gibt.
Die kritische Haltung sorgt dafür, dass wir unsere Kraft als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger daraus schöpfen, unsere Gemeinde, unseren Kanton und unseren Bundesstaat verbessern zu wollen – für alle Bewohnerinnen und Bewohner und für die kommenden Generationen.
Mit dieser Haltung spreche ich heute zu Ihnen. Darum will und muss ich das 50-jährige Jubiläum der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts ins Zentrum meiner Ansprache stellen. Denn die Schweiz ist, da müssen wir ehrlich zueinander sein, eine sehr junge Demokratie. Zumindest wenn man Demokratie als Herrschaft des Volkes innerhalb einer Gesellschaft von freien und gleichen Menschen versteht.
Als die Schweizer Männer 1971 dem Stimm- und Wahlrecht für Frauen endlich zustimmten, waren über 100 Jahre vergangen, seit die Genferin Marie Goegg-Pouchoulin als wohl erste Schweizer Frauenrechtlerin zum ersten Mal gleiche politische Rechte für Schweizer Frauen gefordert hatte. Von dieser erstmaligen Forderung bis zur politischen Gleichberechtigung der Hälfte unserer Bevölkerung dauerte es über ein Jahrhundert. Es brauchte also 100 Jahre politischen Kampf für bisher 50 Jahre politische Gleichberechtigung.
Die Frauen dieses Landes haben doppelt so lange für ihr Menschenrecht auf gleiche Mitbestimmung streiten müssen, als sie es heute haben. Oft wurden sie beschimpft, zum Teil bedroht und fast immer lächerlich gemacht. Viele dieser Kämpferinnen haben den demokratischen Durchbruch gar nicht mehr erlebt. Andere leben heute noch und erinnern uns daran, wie mühselig der Weg zur echten Schweizer Demokratie war.
Noch 1959, 12 Jahre vor dem Durchbruch von 1971, scheiterte die Einführung des Frauenstimmrechts überdeutlich an einem Männermehr von Volk und Ständen.
Nur die Westschweizer Kantone Neuenburg, Waadt und Genf stimmten zu. Und selbst die Freisinnigen und die Christdemokraten, die wichtige Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht in ihren eigenen Reihen hatten, beschlossen 1959 mutlos die Stimmfreigabe.
Und all dies obwohl zu diesem Zeitpunkt schon in praktisch allen europäischen Staaten seit Jahrzenten das gleiche Wahl- und Stimmrecht für Frauen und Männer galt. Nur in Portugal und in Lichtenstein dauerte es noch länger als in der Schweiz. In Portugal musste 1974 zuerst die faschistische Salazar-Diktatur mit der Nelkenrevolution überwunden werden. Im erzkonservativen Fürstentum tickten die Uhren noch etwas langsamer als in der Schweiz.
1971 war also ein sehr später aber ein ebenso grosser Durchbruch in der Geschichte unseres Landes. Wir alle – Frauen wie Männer – müssen ihn gedenken und feiern.
Frauen wie die erwähnte Genfer Frauenrechtlerin Marie Goegg-Pouchoulin haben das möglich gemacht. Oder wie die Bündnerin Meta von Salis, die schon 1896 in einem vielbeachteten Zeitungsartikel unter dem Titel «Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau» die revolutionäre Aussage machte, die volle Gleichberechtigung der Frauen sei eine «Prämisse des bürgerlichen Staates».
Aber auch jüngere Frauenrechtlerinnen wie Iris von Roten, die 1958 mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter» für viele rote Köpfe sorgte aber dazu beitrug, dass mit der Zeit die Stimmung zugunsten der politischen Gleichberechtigung kippte, gebührt unser Dank.
Genauso wie tausenden von Frauen, die sich noch ohne politischen Rechte am Arbeitsplatz, in den Gemeinden, in Parteien, in Gewerkschaften oder in Verbänden organisierten und engagierten, die lautstark demonstrierten und protestierten und vor allem jahrzehntelang in ihrer politischen Basisarbeit nicht lockerliessen. Ihnen und auch einigen solidarischen Männern gilt heute unsere Dankbarkeit.
Sie sind es, die unser Land erst zur wirklichen Demokratie gemacht haben.
Sie sind es, die Ihnen, geschätzte Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde und des Kreises Churwalden, heute ermöglichen, mit Margrith Raschein eine Gemeindepräsidentin und mit Brigitta Hitz-Rusch eine Grossrätin zu haben.
Sie, die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für gleiche Rechte in unserem Land, sie sind es, die vor 50 Jahren ein grosses Stück echte Freiheit und echten Gemeinsinn geschaffen haben.
Sie müssen wir an diesem 1. August ehren. Ihre Weitsicht wollen wir uns zum Vorbild nehmen. Gerade auch mit Blick auf die kommenden Herausforderungen unseres Landes.
Wenn es zum Beispiel darum geht, in der Arbeitswelt gleiche Chancen und gleiche Löhne für gleiche Arbeit durchzusetzen und eine Familienpolitik auf den Weg zu bringen, die diesen Namen verdient.
Oder wenn es darum geht, mit wirksamer Klima- und Umweltpolitik oder einer klugen Weiterentwicklung unserer Beziehung zu Europa die Rechte und Chancen der künftigen Generationen zu wahren.
Oder wenn es darum geht, auch Menschen mit einer Behinderung, Menschen mit einer anderen Herkunft oder Menschen mit einer anderen sexuellen Identität oder Orientierung gleiche Rechte zu geben.
Wenn wir in Zukunft an solche und andere Herausforderungen denken, sollten wir auch an die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für das Frauenstimmrecht denken.
Sie haben es geschafft, abstrakten Grundsätzen unseres Bundesstaates – Freiheit, Gemeinsinn und Demokratie – konkret Leben einzuhauchen. Sie haben sich nicht entmutigen lassen. Sie standen auf der richtigen Seite der Geschichte. Heute, 50 Jahre nach ihrem Erfolg, dienen sie uns als Quelle der Inspiration.
Mögen sie uns als Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern helfen, die Kraft zu schöpfen, unsere Gemeinde, unseren Kanton und unseren Bundesstaat verbessern zu wollen – für alle Bewohnerinnen und Bewohner und für die kommenden Generationen.
Für eine bessere Schweiz, in der wir alle gerne leben – und die wir alle lieben können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und schönen 1. August.