Charas engiadinaisas e chars engiadinais
charas Svizras e chars Svizzers
Chars conumans
Hoz es ils 1. avuost, nossa festa naziunala. A prüma ögliada nun es quai üna chosa cumplichada, anzi ella es simpla: nus festagiain nossa patria.
Für einmal gefällt mir das deutsche Wort besser als das romanische, weil es ohne patriarchale Etymologie auskommt: wir feiern nossa patria, unsere Heimat. Das ist prima vista eine einfache Sache. Doch auf den zweiten Blick gestaltet sie sich verzwickter. Dann nämlich, wenn wir uns fragen, was denn genau unsere Heimat ist. Es ist verzwickt, wenn wir versuchen diese einfache Frage ehrlich und in der Tiefe zu beantworten.
Ich versuche es trotzdem. Denn das ist sozusagen die Kernkompetenz eines Politikers: Lange Antworten auf einfache Fragen zu geben.
Also: Was ist unsere Heimat?
Eu cumainz cun l’evidaint. Nossa patria es la terra. Ob wir es wollen oder nicht. Das Schicksal hat uns diesen einen Planeten zugelost, der uns zuweilen unermesslich gross erscheint. Beispielsweise wenn wir hier oben in die Ferne blicken. Cur cha nus realisain cha davo mincha orizont daja ün oter orizont e ün oter orizont e amo ün oter orizont.
Minchatant nos planet natal ans para però eir pitschnin pitschnin. Per exaimpel cur cha nus til guardain tras il telescop da spazi James Webb. Klein scheint uns unser Planet, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie eng unsere Gesellschaften auf der Welt zusammenhängen.
Wie folgenreich ein winzig kleiner Vorfall für die globale Gemeinschaft sein kann. Beispielsweise das Überspringen eines viralen Erregers auf einen menschlichen Wirt irgendwo auf einem Markt, von dem wir hier nicht wussten, dass es ihn gibt.
Scha nus vessan dad avair invlidà malgrà la crisa dal clima o nossa economia globalisada – la pandemia ans ha trat adimanit fich bain ed in möd persistent: nus eschan üna cumünanza da destin mundiala – eine weltweite Schicksalsgemeinschaft.
Wobei, ich muss mich korrigieren: schon wieder ist mir das Wort Schicksal über die Lippen gerutscht. Dabei glaube ich nicht an die Unveränderbarkeit der Zustände. Zumindest derjenigen auf unserem Planeten. Wir haben es in der Hand, sie zu verändern. Das ist der Kern jeder demokratischen Überzeugung. Also sagen wir besser: Wir sind eine weltweite Gemeinschaft.
E cun quai cha nus eschan pertocs tuots insembel dal muond staina eir decider insembel culs listess drets e dovairs sur da la cundiziun dal muond. Eir quai es il minz da la democrazia.
Damit wird die Antwort auf die Frage, was unsere Heimat ist, ein erstes Mal erweitert: Heimat ist nicht nur geografisch zu verstehen, sondern ideell. Fragen wir uns also nicht nur: In welcher Welt sind wir zuhause? Sondern: In welchem Wert, in welchen Werten sind wir zuhause?
Cun il di da festa naziunala nu festagiana be simplamaing la Svizzra sco territori geografic plü o main casual. Nus nu festagian simplamaing ün evenimaint istoric. Nus festagiani valuors. Nus festagiain valuors democraticas.
Die Demokratie, die wir in der Schweiz feiern dürfen, ist nicht vollkommen. Bis vor etwas mehr als fünfzig Jahren hat sie die Frauen ausgeschlossen. Und noch immer, so finde ich zumindest, schliesst sie zu wenige Menschen ein, die hier leben, arbeiten und Steuern zahlen. Ein Viertel unserer erwachsenen, ständigen Bevölkerung darf noch nicht mitbestimmen. Ein grosses Defizit. Aber in ihrem Kern, in ihrer föderalistischen und rechtsstaatlichen Ausprägung und auch wenn man sie historisch einordnet, ist unsere Demokratie eine enorme Errungenschaft.
Sie verbindet uns mit all jenen überall auf der Welt, die sich für Freiheit, für Selbstbestimmung und für die Menschenrechte einsetzen.
Wenn wir uns in der Demokratie zuhause fühlen, haben wir eine weite Heimat, die sich über Grenzen in der Landschaft und über Grenzen in den Köpfen erstreckt. Doch dieses Zuhause, das wir alle gemeinsam und als Freie und Gleiche gestalten dürfen, ist in Gefahr. Gefährdet durch die Kriegstreiberei und den Machtanspruch der Autokraten dieser Welt. Der Krieg gegen die Ukraine, die Niederschlagung der Demokratie in Hongkong oder der Kapitolsturm in Washington am 6. Januar des letzten Jahres sind nur drei Beispiele, die uns diese Gefahr drastisch vor Augen führen.
Wo die Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Freiheit unter Beschuss geraten, erhält die Frage nach der Heimat eine ganz neue, eine brutale Dringlichkeit. Die wunderbare Heimat-Definition von alt Bundesrat Willi Ritschard, wonach Heimat da ist, wo man keine Angst zu haben braucht, wird für zu viele Menschen auf der Welt in Frage gestellt.
Ils fügitivs da l’Ucraina, da l’Afghanistan, da la Siria o da l’Eritrea ans pon quintar tristas istorgias da lur patria. E per nus, cha nus vain il privilegi da viver sainza temma stoja per quai esser cler: scha nossa patria es la democrazia ed il stadi da dret, lura es ella eir gronda avonda per quels chi tscherchan refügi, protecziun e perspectivas.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich in Europa die Erkenntnis durchgesetzt, dass einzelne, sich konkurrierende oder sogar bekämpfende Nationalstaaten oder Imperien keine Garanten für Frieden, Wohlstand und Fortschritt sind.
Gemeinsame Regeln, Zusammenarbeit und europäische Integration sind es hingegen. La Cumünanza europeica e plü tard l’Uniun han svilpà inavant l’idea da stadi da dret e da democrazia.
Die europäische Integration hat den Heimatbegriff vieler Europäerinnen und Europäer erweitert. Und weil diese Einigung eben eine Absage an imperiale Alleingänge und autokratische Gelüste ist, ist sie den Diktatoren wie Putin oder Lukaschenko ein so grosser Dorn im Auge.
Was ist unsere Heimat?
Selbstverständlich das gemeinsame, demokratische Europa.
Nus fain festa quia a Scuol sülla Motta Naluns. Quia es nos vaschinadi ed eir nos spiert europeic evidaint. Be pacs cumüns pon pretender dad avair duos vaschins europeics. No sperain e lavurain insembel cun blers ingaschats per cha ün bel di quist vaschinadi sia eir colià cun ün tren direct. Scuol-Mals füss üna bella ouvra engiadinaisa ed europeica!
Dass ich Europa selbstverständlich als Heimat verstehe, hat auch mit meiner persönlichen Geschichte und mit der Geschichte meiner Familie zu tun. Ich bin Doppelbürger. Neben der schweizerischen habe ich auch die italienische Staatsbürgerschaft. Meine Mutter ist in Rom und Florenz aufgewachsen. Meine Grosseltern und Urgrosseltern auf der italienischen Seite habe die zwei Weltkriege direkt erlebt, den europäischen Albtraum, in den uns Nationalismus und Faschismus getrieben haben. Nur wenige Kilometer von hier entfernt im Südtirol finden wir noch immer die Soldatengräber des Ersten Weltkriegs.
L’Europa nun es ün «Moloch» bürocratic. L’Europa es la pasch e la democrazia. Europa ist kein Suprastaat, der uns persönliche Freiheiten raubt. Europa und die Europäische Union sind das Resultat der wichtigsten Lektion der Geschichte: Dass unsere Heimat nur Bestand hat, wenn sie mit anderen Heimaten kompatibel ist.
La Svizra fa part da quista Europa. Istoricamaing, culturalmaing ed eir politicamaing. Cun ils contrats bilaterals faina part dal proget d’integraziun da l’Europa. Nus vain per exaimpel ingrondì nossa patria cun la libra circulaziun da persunas. E quai a nos avantatg! Noss ospidals, nos hotels e restorants, nossas uffizinas e nos plazzals da fabrica, nossas chasas da chüra e bler oter nu funcziuness sainza l’integraziun europeica e sainza la libra circulaziun.
Doch dieser so genannte «bilaterale Weg» ist eine Lösung auf Zeit. Und nun stösst er an seine strukturellen Grenzen. Weshalb?
Zentral für das Zustandekommen der Bilateralen Verträge war die Erwartung auch der EU, dass der schrittweise Beitritt zum Binnenmarkt den Weg zur Vollmitgliedschaft der Schweiz ebnen würde. Spätestens mit dem Rückzug des Beitrittsgesuchs gibt es diese Perspektive nicht mehr. Die EU sieht seither die Einheitlichkeit ihres EU-Rechts durch Sonderverträge mit der Schweiz gefährdet. Dann kommt der Fakt hinzu, dass die Schweiz seit der EU-Osterweiterung mit fast doppelt so vielen Mitgliedern verhandeln muss wie zuvor. Mit Mitgliedern notabene, denen in den Verhandlungen über ihren EU-Beitritt keinerlei Ausnahmen gewährt wurden. Das verringert die Akzeptanz für eine Schweizer Sonderlösung. Und mit dem Brexit verschlechterte sich die Verhandlungsposition der Schweiz noch weiter.
Was ist unsere Heimat?
Natürlich lautet eine Antwort darauf, besonders am 1. August: Die Schweiz ist unsere Heimat! Wir tun gut daran, diese nicht kleiner zu machen, als sie ist. Wir sollten ihr einen guten Platz im europäischen Netz der Heimaten sichern. Was es jetzt braucht, ist eine klare Strategie hin zu einer institutionellen Zusammenarbeit.
Kurzfristig ein Stabilisierungsabkommen, das unter anderem die gefährdete Teilnahme an den europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen sichert. Mittelfristig braucht es eine Assoziierung mit der EU. Das heisst, wir müssen die vielen einzelnen sondervertraglichen Lösungen auf ein einziges tragfähiges Wirtschafts- und Kooperationsabkommen vereinen.
Und ja, langfristig müssen wir uns vorurteilsfrei und sachlich über einen EU-Beitritt unterhalten. Europa entwickelt sich weiter. Die Schweiz hätte dazu viel beizutragen. Abseits zu stehen und unfreiwillig Gesetze nachzuvollziehen, schleichend den Zugang zum Binnenmarkt und persönlichen Freiheiten zu verlieren, ist eine schlechte Option. Sie geht wieder mehr in Richtung der letztlich undemokratischen Schicksalsergebenheit statt der Selbstbestimmung.
So, nun habe ich in Bezug auf die Heimat vor allem über die grossen geo- bis europapolitischen Zusammenhänge gesprochen. Und ich kann es niemandem verübeln, der sagt: Moment, Heimat ist doch viel intimer. Heimat ist regional, lokal, familiär. Das stimmt. Denn Heimat ist eben vielschichtig. Verankerung ist wichtig.
Il Grischun es mia patria. Sia cultura multifara. Sias trais linguas e ses blers idimos e dialects sun mia patria. Sia cultura e sia natüra sun mia patria. Üna patria ch’eu vögl proteger e chürar. Proteger nossa natüra ed il clima sun ün act patriotic! Avair jent nossa cultura e dovrar nossa lingua sun acts d’amur per nossa cumünanza.
Das Unterengadin ist meine Heimat. Ich könnte über meine Verankerung hier noch viele schöne Worte verlieren. Doch Pathos habt ihr in meiner Rede schon genug gehört. Zum Schluss möchte ich noch auf eine sehr dringliche Frage rund um die Heimat zu sprechen kommen. Eine Frage, die sich hier im Unterengadin besonders stellt.
Was tun, wenn sich Menschen ihre Heimat nicht mehr leisten können?
Die Verdrängungseffekte durch den Zweitwohnungsbau und die Immobilienspekulation führen dazu, dass es für die arbeitende Bevölkerung im Unterengadin immer schwieriger wird, sich das Wohnen zu leisten. Einstmals belebte Dorfkerne verlieren ihre Lebendigkeit und ihre soziale Funktion. Orte der Gemeinschaft verschwinden. Das Ausweichen auf die grüne Wiese ist keine Option. Auch die Bündner Bevölkerung hat – zu Recht – Ja gesagt zu einem Raumplanungsgesetz, dass schonend mit der endlichen Ressource des Bodens umgeht. Doch nun drohen hier im Tal Abwanderung und reine Kulissendörfer.
Was tun dagegen? Klar, die Politik ist gefordert. Die Gemeinden müssen aktiv Wohnbaupolitik und Raumplanung betreiben. Und auch der nationale Gesetzgeber könnte aktiv werden. Ein paar Ideen hätte ich.
Doch es ist besser, wenn der dringende Aufruf nicht von einem Nationalrat kommt, sondern wenn die Bevölkerung das Heft des Handelns selbst in die Hand nimmt. So wie es hier im Unterengadin die Società Anna Florin macht. Ich erlaube mir, kurz von ihrer Webseite zu zitieren:
«La società sustegna als cumüns in lur lezchas resultadas tras las fusiuns e tils motivescha da far frunt al marchà d’immobiglias da seguondas abitaziuns. Lös d’inscunter pella populaziun dessan gnir mantgnüts e nouvs dessan gnir creats. Anna Florin sensibilisescha a las abitantas ed als abitants dals cumüns sco eir a las possessuras ed als possessurs da seguondas abitaziuns pellas pussibiltats d’üna cumünanza viva ed animescha da chürar il plaschair da viver in Engiadina Bassa.»
Und weil es so wichtig ist auch noch auf Deutsch. Der Verein Anna Florin:
«(…) ermutigt und unterstützt die Gemeinden, den Konsequenzen von Gemeindefusionen und dem Druck des Zweitwohnungs-Immobilienmarkts entgegenzuwirken, bestehende Räume für die Dorfgemeinschaften zu bewahren und Neue zu fördern. Anna Florin sensibilisiert die Bewohner:innen und die Zweitwohnungsbesitzer:innen für die Möglichkeiten einer vitalen Gemeinschaft und animiert sie dazu sich aktiv und nachhaltig für die Lebensqualität im Unterengadin einzubringen.»
Ich finde das eine sehr wichtige Sache und lege allen, die sich für das Unterengadin engagieren möchten, eine Mitgliedschaft bei Anna Florin nahe. Auf die Frage «Was ist unsere Heimat?» liefert Anna Florin nämlich die überzeugendste Antwort überhaupt.
Unsere Heimat ist, was wir aus unserer Heimat machen.
Nossa patria es quai cha nus fain landroura.
Grazcha fichun per vossa attenziun e bun 1. avuost a nus tuots!