Andreas Zünd ist der Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Manche verunglimpfen Herrn Zünd gerade als Landesverräter. Grund ist, dass er seinen Job als unabhängigen Richter gemacht hat.

Zusammen mit den anderen Richterinnen und Richtern hat Herr Zünd befunden, dass die Schweiz gegen die Menschenrechte ihrer eigenen Bevölkerung handelt, weil sie nicht genug gegen den Klimawandel tut. Dem Urteil vorausgegangen war eine Klage der Schweizer Klimaseniorinnen, dass die Schweiz mit der halbherzigen Umsetzung ihrer Klimapolitik die körperliche Unversehrtheit und damit das Recht auf ein Privatleben der Schweizerinnen und Schweizer zu wenig schützt.

Ein Richter muss unabhängig und im Sinn des Gesetzes handeln. Er darf kein Befehlsempfänger einer Regierung sein, auch nicht seiner eigenen. Und das Gesetz, das Herr Zünd anwenden muss bei seinen Urteilen, sind die Menschenrechte. Einer der wichtigsten Grundpfeiler der modernen Zivilisation.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist ein ermutigendes Zeichen für eine unabhängige Justiz. Wer nicht vorsätzlich die Augen verschliesst, weiss, dass wir bis jetzt zu wenig getan haben gegen den Klimawandel. Alle, die das Pariser Klimaabkommen und das vom Volk angenommene Schweizer Klimaschutzgesetz kennen, haben es Schwarz auf Weiss. Und die Klimawissenschaft ist sich sowieso einig, dass wir mehr tun müssen, wenn wir nicht dramatische Konsequenzen für das Wohlergehen von Millionen von Menschen riskieren wollen.

Die Richterinnen und Richter haben daher Recht, wenn sie Klimaschutz als Voraussetzung für die Umsetzung der Menschenrechte bezeichnen. Und nein, sie haben sich auch nicht in die Schweizer Innenpolitik eingemischt. Sie sagen mit keinem Wort, welche Massnahmen die Schweizer Politik ergreifen muss. Sie sagen nur: Wir müssen die Klimaziele ernsthaft verfolgen. Für unsere Menschenrechte.

Damit erinnern die Richterinnen und Richter den Bundesrat und das Parlament an ihre Pflicht, völkerrechtliche Verträge und schweizerische Gesetze zu respektieren. Genau das zu tun, ist eine klassische Aufgabe einer unabhängigen Justiz.

Für die 46 Mitgliedsstaaten des Europarates ist das Urteil gegen die Schweiz ein Leiturteil. Alle Staaten Europas müssen nun den menschengemachten Klimawandel im Interesse der Gesundheit und des Lebens – und damit auch der Menschenrechte – ihrer Bevölkerung besser bekämpfen.

Dass die SVP wegen des Urteils gleich aus dem Europarat austreten will, erstaunt nicht. Sie hat in den letzten Jahrzehnten weder die Menschenrechte noch den Klimawandel je besonders ernst genommen.

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wissen aber zum Glück, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schutz ihrer Rechte da ist. Sie haben 2018 die SVP-Initiative gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihren Gerichtshof haushoch abgelehnt.

Sie wissen auch: Wenn die Schweiz, Europa und die Welt scheitern beim Bekämpfen des Klimawandels, hat das dramatische Folgen für die Menschenrechte von uns allen. Wir in der Berner Politik sollten das Urteil als Chance für mehr Klimaschutz nutzen, statt darüber zu jammern, dass es in Strassburg und nicht irgendwo in der Schweiz gesprochen worden ist.

Dieser Text ist am 17. April 2024 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.

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