Unser Land liegt geografisch, kulturell und wirtschaftlich im Herzen Europas. Fussballerisch sowieso! Seit dem grandiosen Sieg über Weltmeister Frankreich lassen uns Xhaka, Sommer, Seferović und Co. sogar europäisch träumen. Gebannt werden wir heute ab 18 Uhr auf die Schirme blicken und gegen Spanien auf eine Wiederholung der Sensation hoffen. Dann noch die Scharte gegen Italien auswetzen oder Belgien schlagen, um im grossen Finale… die Sport-Schweiz ist vom Europa(meisterschafts)-Taumel ergriffen!
Ganz anders die Politik. Der Bundesrat hat am 26. Mai die Verhandlungen über ein Institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU abgebrochen. Einen Plan B hat er nicht aufgezeigt. Das ist komplett verantwortungslos. Der von der SP aufgezeigte Lösungsweg – die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) wird von der Schweiz weitgehend übernommen, im Gegenzug erhält die Schweiz Garantien für einen eigenständigen Lohnschutz – wurde nicht einmal versucht. Dies ist umso unverständlicher, als genau dieser Weg auch von der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates und von Bundesrätin Viola Amherd vorangetrieben wurde.
Ende der bilateralen Gemütlichkeit
Selbstkritisch müssen wir von der SP festhalten, dass wir diese Idee zu spät eingebracht haben. Niemand hat sich bei diesem Dossier mit Ruhm bekleckert. Das Systemversagen der Schweizer Politik hat aber einen klaren Anfang: Der fundamentale Vertrauensbruch von FDP-Bundesrat Cassis gegenüber den Gewerkschaften. Der Aussenminister liess bewusst oder unbewusst zu, dass seine Diplomaten den so wichtigen Lohnschutz in Frage stellten. Und zwar in eklatanter Verletzung des damaligen Verhandlungsmandates. Diesen Schaden hat der Bundesrat weder aussenpolitisch ausgemerzt noch innenpolitisch gekittet.
Beispiellos unverantwortlich war auch die Entscheidung unserer Regierung, Medien und Interessengruppen über einen nicht fertig verhandelten Vertragsentwurf diskutieren zu lassen, den sie politisch nie gewürdigt oder eingeordnet hat. Weil der Bundesrat nie eine konsistente Gesamtsicht auf unser Verhältnis zu unseren Nachbarn anbot, drängte er die innenpolitischen Akteure faktisch dazu, nur ihre Partikularinteressen zu sehen. So gingen in der Schweiz Kompromissbereitschaft und Kreativität flöten, die es immer braucht, um in einer verfahrenen Situation doch noch eine Lösung zu finden. Das Resultat ist der Abbruch in die Ratlosigkeit – und das Ende der bilateralen Gemütlichkeit.
Isolieren oder integrieren?
Nun braucht es neue Perspektiven in der Schweizer Europapolitik. Dafür müssen wir grundsätzlich werden. Wollen wir uns isolieren und uns ganz autonom der Welt anpassen? Oder wollen wir uns in Europa integrieren und unsere gemeinsame Zukunft mitgestalten? Mir scheint zweiteres attraktiver. Mehr Integration heisst dann aber auch, dass wir uns in eine Rechtsgemeinschaft einfügen. Eine Integration à la carte gibt es nicht. Es wird Kompromisse brauchen. Dafür können wir mitreden und mitentscheiden. Ob das in Form eines verbesserten institutionellen Vertrags, über den Beitritt zum EWR oder sogar einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union geschieht, ist zu diskutieren. Aus demokratischer Sicht scheint mir die Vollmitgliedschaft schon immer die beste Option. Aber ich lasse mich gerne von anderen Lösungen überzeugen.
Unbestritten sollten hingegen zwei Grundsätze sein. Erstens: Ein Zurück zu unabhängig voneinander oder sogar gegeneinander handelnden Nationalstaaten in Europa darf es nicht geben. Frieden, Freiheit, Wohlstand und den ökologischen Umbau schaffen wir nur gemeinsam. Zweitens: Mehr Integration in Europa funktioniert dann, wenn sie mit sozialem Fortschritt für die Bevölkerung verbunden wird. Darum sind Lohnschutz und soziale Sicherheit eine Voraussetzung für ein starkes Europa – und für eine europäische Schweiz. Ja, wir sollten nicht nur im Fussball europäisch träumen. Die Zukunft unseres Kontinents ist schliesslich auch unsere Zukunft. Hopp Schwiiz!
Dieser Text ist am 2. Juli 2021, dem Tag des EM-Viertelfinals Schweiz-Spanien als Gastkommentar im Bündner Tagblatt erschienen.