«Let’s drink to the hard working people, let’s drink to the salt of the earth», singt Mick Jagger in der legendären Working-Class-Hymne der Rolling Stones. Als agnostischer Mensch habe ich Hemmungen vor Bibelzitaten. Und doch finde ich: Jagger und die Stones haben Recht.
Die hart arbeitenden Menschen schaffen die Werte unserer Wirtschaft. Sie sorgen für Fortschritt und Sicherheit in unserer Gesellschaft. Durch sie entsteht Würde für und Zugehörigkeit unter Menschen.
Die Bähnlerinnen und Chauffeure, die Kindergärtner und Lehrerinnen, die Verkäuferinnen und Lageristen, die Elektroinstallateure und Polizistinnen, die Pflegerinnen und Bauarbeiter, die Sozialarbeiter und die Sanitärinnen, die Köche und die Apothekerinnen, die Sekretärinnen und die Strassenkehrer – sie alle und viele mehr sind es, die jeden Tag dafür sorgen, dass unser Leben funktioniert. Mit ihrer Erwerbsarbeit einerseits und mit ihrer unbezahlten Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit andererseits. Sie sind tatsächlich das Salz der Erde!
Deshalb feiern wir sie und ihre Arbeit jedes Jahr am Tag der Arbeit, am 1. Mai. Und in den übrigen 364 Tagen des Jahres engagieren wir uns dafür, dass die Arbeit endlich den Respekt und die Anerkennung erhält, die sie verdient.
Für den sozialen Fortschritt im Arbeitsleben, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Politik.
In der Schweiz haben wir die Chance, diesen sozialen Fortschritt über Volksabstimmungen voranzutreiben. Am 3. März haben wir es dieses Jahr ein erstes Mal geschafft. Nach Jahren des Niedergangs der Pensionskassenrenten und immer höheren Kosten für die Bevölkerung bei den Mieten, den Prämien und der Energie – einem erheblichen Kaufkraftverlust – hat auch die Schweiz eine 13. Monatsrente eingeführt.
Ab 2026 wird 13. AHV-Rente dafür sorgen, dass die Kaufkraftverluste der letzten Jahre für alle dannzumaligen und künftigen Rentnerinnen und Rentner ausgeglichen werden.
Obwohl monatelang behauptet wurde, die 13. AHV-Rente sei unmöglich und egoistisch und würde die jüngere Generation massiv belasten, liessen sich die Schweizerinnen und Schweizer nicht ist Bockshorn jagen.
Weil der Generationenkonflikt aber weiterhin herbeigeredet wird, will ich heute am Tag der Arbeit eines klarstellen:
Historisch hat nichts das Verhältnis zwischen den Generationen mehr verbessert als die AHV. Sie hat auf der einen Seite der breiten Bevölkerung ein Alter in Würde ermöglicht. Und sie hat auf der anderen Seite die Jungen von der Bürde entlastet, auch finanziell für ihre Eltern sorgen zu müssen. Für jüngere Generationen war und ist die AHV die wohl grösste finanzielle Entlastungsmassnahme aller Zeiten. Diese AHV als Last für die Jungen zu verleumden, ist absurd. Denn bei der AHV erhalten statistisch neun von zehn Personen mehr Rente zwischen der Pensionierung und dem Lebensende, als sie im gesamten aktiven Arbeitsleben einbezahlt haben. Darum ist auch eine 13. AHV-Rente sicher keine Last für die Jungen sondern ein Stück Gerechtigkeit für Jung und Alt.
Am 9. Juni haben wir die nächste Chance, den sozialen Fortschritt voranzutreiben und etwas für die Kaufkraft der Menschen zu tun. Dann stimmen wir über die Prämien-Initiative ab. Sie ist dringend nötig, denn die Krankenkassenprämien explodieren. Das bringt immer mehr Menschen in finanzielle Schwierigkeiten. Mit einem Ja am 9. Juni stoppen wir die jährliche Zumutung des Prämienanstiegs für Familien, Rentnerpaare, Alleinstehende mit tiefen und mittleren Einkommen.
Denn mit der Initiative würden die Prämien gedeckelt und dürften neu nicht mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens eines Haushalts ausmachen. Damit schützen wir insbesondere die hart arbeitende Mittelschicht vor der einzigen, jährlich steigenden Steuer in unserem Land. Und erst noch der unsozialsten – einer Kopfprämie! Erstaunlich, dass ausgerechnet diejenigen, die sonst immer behaupten, die «Steuerbelastung des Mittelstandes» senken zu wollen, bei der für die Mittelschicht schlimmsten, jährlich steigenden Steuer gegen Entlastung sind.
Sie ziehen auch in diesem Abstimmungskampf durch das Land und machen den Menschen Angst. Wir könnten uns den Prämiendeckel nicht leisten, die Kosten seien zu hoch. Das ist Quatsch. Die Prämien-Initiative verursacht keinen einzigen Rappen Mehrkosten. Sie sorgt einfach dafür, dass die bestehenden und künftigen Kosten ein wenig gerechter verteilt werden.
Statt dass die Kosten unserer Gesundheitsversicherung voll bei der Mittelschicht und bei den Familien bleiben, sorgen wir mit einem Ja zur Prämien-Initiative dafür, dass jeder Franken über der Schwelle von 10% des jeweiligen Haushaltseinkommens durch die Allgemeinheit und damit sozial finanziert wird.
Die Frage ist einfach: Wollen wir, dass alle künftigen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen einfach über Prämienerhöhungen von der hart arbeitenden Mittelschicht getragen werden? Oder soll der Staat, der dank den progressiven Steuern viel stärker von den Reichen und Superreichen finanziert wird, seinen korrekten Beitrag leistet?
Die zweite Option ist ein offensichtliches Gebot der Gerechtigkeit. In keinem Land Europas müssen die Menschen mehr aus der eigenen Tasche für die Gesundheitskosten zahlen als in der Schweiz. Wegen unseren Kopfprämien, wegen unseren im Schnitt hohen Franchisen und wegen der Tatsache, dass einige Leistungen wie die Zahnmedizin durch die obligatorische Krankenversicherung nicht gedeckt sind.
Im europäischen Schnitt werden 76% der Gesundheitskosten über einkommensabhängige Steuern oder Lohnbeiträge finanziert. In der Schweiz sind wir bei läppischen 36%. Die Prämien-Initiative würde dieses schiefe Verhältnis moderat verbessern.
Die Prämien-Initiative ist also wirklich keine Revolution, sie ist eine soziale Notwendigkeit. Wir alle müssen uns für ein Ja am 9. Juni engagieren!
Nun wenden unsere Gegner ein, dass der soziale Fortschritt einer 13. AHV-Rente und des dringend notwendigen Prämiendeckels die Staatskassen mehr belasten, was angesichts der «angespannten Finanzlage» unverantwortlich sei. Auch dieses Argument ist falsch. Die Staatfinanzen in der Schweiz sind nicht angespannt. Im Gegenteil. Fast alle Kantone schreiben Gewinne. Und sowohl der Bund als auch die meisten Kantone haben einen so tiefen Schuldenstand, dass keine vernünftige Ökonomin darauf kommen würde, die Schweiz sei ein Fall für Sparmassnahmen. Das einzige Finanzprobleme, welches unser Land tatsächlich hat, ist der Schuldenbremsenfetischismus der rechten Parteien.
Als Bund haben wir eine Nettoverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung von 17.8%, das ist lächerlich tief. Wir könnten diese Schuld auf einen Schlag verdoppeln und hätten bei allen Ratingagenturen immer noch die Bestnote AAA. Die fiskalisch sehr konservativen Ökonominnen und Ökonomen, welche die Maastrichter Kriterien ausgearbeitet haben, definieren eine Schuldenquote von bis zu 60% als gesund – und wir haben nicht einmal 18%!
Natürlich sind Schulden nicht per se anstrebenswert und es wäre klüger, zusätzliche Aufwendungen des Staates mit klugen Steuern auf dem Kapital, auf grossen Erbschaften oder auf Finanztransaktionen zu finanzieren. Aber ein reales Finanzproblem haben wir auch ohne diese sinnvollen Steuern definitiv nicht. Wir haben ein rein ideologisches Problem bei der rechten Mehrheit im Bundesrat und im Parlament.
Am 9. Juni stimmen wir auch über das Stromgesetz ab. Auch diese Abstimmung ist wichtig für eine soziale Schweiz. Denn ein Ja zum Stromgesetz ist notwendig, um unsere Klimaziele erreichen. Und Klimaschutz ist auch eine soziale Notwendigkeit. Weil wir wissen, dass es in einer kaputten Natur keine gute Arbeit und keine soziale Gerechtigkeit geben kann. Ausserdem wissen wir, dass nur eine sichere Energieversorgung mit erneuerbarem Strom stabile und bezahlbare Energiepreise in Zukunft sichern kann. Die drei grössten Kaufkraftkiller sind die Mieten, die Prämien und eben die Energiekosten. Damit wir in Zukunft die Energiekosten für die Bevölkerung unter Kontrolle behalten, müssen wir im grossen Stil erneuerbare Energien zubauen. Auch das schaffen wir mit einem Ja zum Stromgesetz am 9. Juni.
Für dauerhaften sozialen Fortschritt braucht es aber nicht nur punktuelle Erfolge bei Abstimmungen. Die Herausforderung ist grösser. Es braucht ein kollektives Bewusstsein dafür, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse keine Naturereignisse sind, sondern das Resultat von politischen Entscheidungen. Es ist zum Beispiel nicht einfach Schicksal, dass in der wohlhabenden Schweiz zugleich gegen 900’000 Menschen in Armut leben, während die 300 Reichsten ein Vermögen von gegen 900 Milliarden – mehr als das Zehnfache des Bundesbudgets – besitzen.
Diese ungeheure Ungleichheit ist das Resultat einer unsozialen Politik. Und deshalb kann sie auch überwunden werden. Aber wir müssen uns dafür engagieren: politisch, gewerkschaftlich, im Alltag. Damit mehr Menschen erkennen, dass sie Teil einer solidarischen Veränderung sein können. Das ist letztlich die Idee der sozialen Demokratie, für die der Tag der Arbeit steht.
Wie ihr wisst, ist der 1. Mai der einzig wirklich globale Feiertag. Denn der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter um Würde, Freiheit und Gerechtigkeit war und ist ein weltweiter.
Darum schliesse ich mit einigen Gedanken an unsere Mitstreiterinnen und Mitstreiter in anderen Teilen der Welt.
Ich möchte an die Aktivistinnen und Aktivisten erinnern, die in gefährlichen und unfreien Teilen der Welt ihr Leben riskieren, um sich für Freiheit, sozialen Fortschritt, Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte einzusetzen. Vor einem Monat durfte ich mit dem Hilfswerk Swissaid und sechs Kolleginnen und Kollegen aus dem Nationalrat Kolumbien bereisen. Obwohl das Land in Europa mittlerweile als «Post-Conflict» und «Middle-Income Country» gilt, ist die Ungleichheit und damit auch die Armut riesig und es sterben immer noch täglich viele Menschen an der Gewalt von bewaffneten Gruppen. Aber die lebendige Zivilgesellschaft leistet Widerstand gegen die Gewalt. Diese lebendige Zivilgesellschaft engagiert sich für einen dauerhaften Frieden, der auf sozialer Gerechtigkeit gebaut wird.
Wir haben die 26-jährige indigene Yina Ortega Benitez kennengelernt, die als Jugendliche ihr Heimatdorf verlassen musste, weil ihr dort die Zwangsprostitution oder die Zwangsrekrutierung durch eine bewaffnete Gruppe gedroht hätte. Dank Swissaid konnte sie studieren und hat heute eine gute Arbeit.
Yina ist zudem Jugendaktivistin und Jungpolitikerin, in der Schweiz wäre sie wohl in der JUSO. Während hiesige Jusos relativ unbeschwert politisieren können, muss sich Yina immer wieder verstecken, weil ihr Leben bedroht wird. Die bewaffneten Gruppen wollen nicht, dass sie den Jugendlichen hilft, sich aus den Fängen der Gewaltkultur und der bewaffneten Gruppen zu lösen.
Obwohl sie alles riskiert, ist Aufgeben für die junge Frau keine Option. Sie will mit ihren Freundinnen und Freunden weiter für den Frieden und für die sozialen Rechte der Jugend kämpfen. Dabei hat ihre Organisation eine klare Vorstellung für ihre Friedensarbeit. Sie schreiben einen wunderbaren Satz:
«Frieden ist nicht die Abwesenheit von bewaffnetem Konflikt – Frieden herrscht erst, wenn die Menschen wieder ein Recht auf Bildung, auf gute Arbeit, auf Sicherheit und Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit haben.»
Unsere Gedanken sind heute bei allen Yinas dieser Welt. Und auch bei allen unschuldigen Menschen, die an den schrecklichen Kriegen und Konflikten leiden: In der Ukraine, in Gaza, im Yemen, im Sudan, in Myanmar aber auch in allen übrigen rund 90 bewaffneten Konflikten, die wir nicht täglich auf dem Radar haben.
Freiheit, Frieden, sozialer Fortschritt, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Letztlich sind das die Werte, die den 1. Mai überall auf der Welt ausmachen. Diese Werte stellen die Hoffnung für eine bessere Zukunft dar. Sie fallen aber nicht vom Himmel. Wir müssen uns für diese Werte engagieren. Am Tag der Arbeit und an jedem anderen Tag. Tun wir es mit Freude, tun wir es zusammen.
Es lebe der 1. Mai – hoch die internationale Solidarität!