Der schreckliche Krieg gegen die Ukraine zieht sich in die Länge, die Menschen vor Ort sind müde und in Westeuropa nimmt die Aufmerksamkeit für ihre Nöte ab. Und immer wieder begegnet man dem Irrglauben, wonach die Ukraine ihren Verteidigungskampf einstellen sollte, um das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung zu beenden. Gewissermassen eine Teilkapitulation aus humanitären Gründen.
Diese Haltung ist zynisch, weil sie den Aggressor belohnt. Und sie sitzt einem Grundlagenirrtun auf, weil ein Erfolg Russlands sicher nicht zum Ende der Gewalt führen würde. Die bisherigen Erfahrungen beweisen das Gegenteil. Nicht nur die völkerrechtswidrigen Bombardements ziviler Infrastruktur, von Restaurants, Wohnhäusern, Spitälern und Geburtshäusern (!) sind eine Tatsache. Auch die Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten sind unerträgliche Realität: die Massenmorde, die Folterkammern, die systematischen Vergewaltigungen und die Deportationen von tausenden Kindern. Eine ukrainische Niederlage wäre folglich nur ein Freipass für weitere Gräueltaten. Humanität und ein Erfolg Russlands schliessen sich aus.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Putin einen imperialistischen Plan verfolgt, den er von Anfang an recht offen deklarierte. Ziel seiner Invasion war es, die Ukraine zu besetzen, die demokratisch gewählte Regierung zu beseitigen und ihm ergebene Marionetten einzusetzen. Letztlich will Putin die ukrainische Nation und ihre junge Demokratie vernichten. Denn in seiner verqueren Weltsicht existiert gar kein ukrainisches Volk, weshalb er sich berechtigt fühlt, alles mit diesen Menschen zu machen. Ohne mit der Wimper zu zucken, geht er darum über zehntausende von Leichen.
Darum unterstützt Europa die Ukraine mit humanitärer Hilfe, einer grosszügigen Aufnahme der Flüchtenden, Wirtschaftssanktionen gegen Russland, direkten Finanzhilfen und vielen Waffen. Damit verteidigt unser Kontinent nichts weniger als die Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren. Und damit auch die eigene Freiheit. Nur wenn sich aufgrund einer starken Ukraine Putins Kosten-Nutzen-Kalkül verändert, kann es zielführende Verhandlungen geben.
Auch die Schweiz kann und muss mehr tun. Wir müssen weiter solidarisch sein mit den Geflüchteten. Wir müssen das System Putin schwächen, indem wir die Sanktionen endlich konsequent umsetzen. Wir müssen inländische Kriegsgewinnler wie die Rohstoffhändler an die Kandare nehmen und ihre Übergewinne zugunsten der Ukraine besteuern. Und wir müssen endlich unser Geldwäschereigesetz verschärfen.
Wir müssen dem ukrainischen Volk beistehen, indem wir deutlich mehr humanitäre und finanzielle Hilfe leisten. Und wir müssen unsere Neutralität richtig auslegen, damit sie dem Völkerrecht dient und nicht den Aggressor schont. Darum ist auch die Wiederausfuhr von bereits verkauften Schweizer Waffen an die Ukraine durch unsere Nachbarstaaten zu erlauben.
Angesichts von Russlands Imperialismus braucht die Schweiz ein neues Selbstverständnis als Anwältin des Völkerrechts und der Menschenrechte. Darum muss sie engagiert auf der Seite der Ukraine stehen. Nur so kann sie sich glaubwürdig Menschlichkeit und Demokratie auf die Fahne schreiben.
Dieser Text ist am 16. August 2023 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.