Schlagbäume passen nicht zu einem freien und modernen Europa, weder das Virus noch die SVP dürfen unsere Offenheit in Frage stellen.

Die Entwicklung ist positiv, die Zahl der Corona-Infektionen sinkt. Bis jetzt funktioniert der Schweizer Lockdown-Exit. Nach Pfingsten werden wir sehen, ob die gesellschaftlich und wirtschaftlich so erfreulichen Lockerungen vom 11.Mai auch epidemiologisch funktionieren – und wir uns auf weitere Öffnungsschritte freuen dürfen. Es wäre ein Erfolg der pragmatischen Krisenpolitik von Alain Berset und des Bundesrats. Zu wünschen wäre es allemal! Darum gilt weiterhin: Abstand halten, Hände waschen, Vorsicht walten lassen. Eine nächste Ansteckungswelle können wir definitiv nicht gebrauchen.

Eine zweite Welle droht uns aber auch politisch. Und zwar von rechts. Die SVP-Kündigungsinitiative, über die wir am 27. September abstimmen, birgt für unsere Volkswirtschaft ähnlich grosse Gefahren wie die Pandemie. Eine Annahme würde die Personenfreizügigkeit und mit ihr die bilateralen Verträge über Bord schwemmen. Dabei ist die Schweiz wie kaum ein anderes Land vom Export abhängig, zu dem übrigens auch der für unseren Kanton so wichtige Tourismus gehört. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist in diesem Zusammenhang unser wichtigster Trumpf. Das peinliche «Switzerland First»-Gehabe der Kündigungsinitiative-Initianten stellt all das infrage. Statt in die Unabhängigkeit führt uns die Kündigungsinitiative direkt in die Isolation. Und das inmitten der Corona-Rezession, die schon genug Unsicherheit für unsere Arbeitsplätze und Einkommen auslöst. Ein zusätzliches Experiment können wir uns definitiv nicht leisten.

Auch sozial hat die Kündigungsinitiative viel Zerstörungspotenzial. Das Ende der Personenfreizügigkeit könnte das unmenschliche Saisonnier-Statut wieder aufs Tapet bringen, welches Familien auseinanderriss und ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter der Ausbeutung auslieferte. Erst das Freizügigkeitsabkommen von 2002 hat dieses System überwunden und alle Arbeitnehmenden mit gleichen Rechten ausgestattet. Inländische Arbeitnehmende haben ebenso stark davon profitiert. Denn das Abkommen schuf den Hebel, um Lohndumping nicht nur von ausländischen, sondern vor allem auch von schweizerischen Arbeitgebenden zu unterbinden. Ohne das Abkommen mit der EU gäbe es keine flankierenden Massnahmen. Es gäbe konkret keine regelmässigen Kontrollen der Einhaltung schweizerischer Arbeits- und Lohnbedingungen. Und es gäbe weniger Gesamtarbeitsverträge und höhere Hürden für deren Allgemeinverbindlichkeit.

Dass in der Schweiz gerade die tiefen Löhne in den letzten Jahren überdurchschnittlich gestiegen sind und wir keinen riesigen Tieflohnsektor kennen, ist das Verdienst der Kombination aus Offenheit und sozialem Schutz. Diese Politik sichert Arbeitsplätze sowie ein Lohn- und Arbeitsrecht, das vor Missbrauch und Lohndumping schützt. Gerade in der Krise dürfen wir diese Sicherheiten nicht aufs Spiel setzen. Die Kündigung der Personenfreizügigkeit wäre das Ende des bilateralen Wegs und des schweizerischen Lohnschutzes. Es gibt genug Gründe, diese Welle von rechts zu stoppen. Mit einem Nein am 27. September schaffen wir das.

Dieser Text ist am 26. Mai 2020 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.

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