Schon 2008, nach der Aggression Putins gegen Georgien, wies Karikaturist Chappatte in der Zeitung “Le Temps” treffen auf die Gefahren einer Appeasement-Politik gegenüber dem russischen Regime hin. Schon damals ging es um die Gas-Abhängigkeit.

Putins brutaler Krieg gegen die Ukraine tobt seit über vier Monaten. Tausende wurden getötet, ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets ist besetzt, Millionen mussten fliehen, Grossstädte sind zerstört und die schrecklichen Bilder der Kriegsverbrechen lassen uns nicht mehr los. Verbrecherisch ist auch Putins Blockierung der Agrarexporte, die zu Hunger und Elend in vielen afrikanischen Staaten führen könnten.

Gleichzeitig drohen wir in Westeuropa den Fokus zu verlieren. Unsere Angst vor einem Mangel an Gas und Strom oder vor der Inflation dominieren die heimische Debatte – und nicht mehr die Solidarität mit der Ukraine. Die Sorgen um Versorgungssicherheit und Kaufkraft sind berechtigt, dürfen uns aber nicht dazu verleiten, den Ausweg in einem Kniefall vor dem Aggressor zu suchen.

Genau dieser Versuchung erliegt SVP-Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher. In einem NZZ-Interview fordert sie, Europa müsse jetzt mit dem russischen Diktator in Verhandlungen treten, um russische Gaslieferungen zu sichern und die Kampfhandlungen zu beenden. Über das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verliert sie kein Wort. Ein faktischer Diktat-Frieden, den Europa über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg mit Putin verhandeln würde, wäre aber eine politische Kapitulation Europas. Und eine Bankrotterklärung für unsere Werte. Putin wüsste, dass Europa mit Waffengewalt erpresst werden kann. Diesen Gefallen dürfen wir dem Gewaltherrscher im Kreml nicht machen. Treffend disqualifiziert die bürgerliche NZZ daher diese defätistische SVP-Haltung: «Dass ausgerechnet die SVP, die sich stolz-patriotisch gibt, eine geschichtsvergessene Sicherheitspolitik betreibt, auf Appeasement gegenüber einem Diktator setzt und den Freiheitswillen des ukrainischen Volkes als vernachlässigbar behandelt, ist beschämend.»

So ist es. Putins illegaler und imperialistischer Krieg darf nicht belohnt werden. Darum bleibt Europa und auch der Schweiz nichts anderes übrig, als geeint die Ukraine zu unterstützen. Putin muss politisch isoliert und seine Wirtschaft mit Sanktionen geschwächt werden. Zugleich muss der Bundesrat im Verbund mit Europa alles tun, um Energiemangellagen sowie wirtschaftliche und soziale Verwerfungen zu verhindern. Wir müssen im Hinblick auf nächsten Winter Energie sparen und die Kaufkraft der Menschen sichern. Beides ist mach- und zumutbar. Persönliche Beiträge wie kürzeres Duschen, Standby-Modus abschalten oder die Zimmertemperatur auf «nur» 20 Grad einstellen, sind im Falle einer Mangellage nicht zu viel verlangt. Und öffentliche Investitionen in mehr Krankenkassenverbilligung, einem Teuerungsausgleich bei AHV- und IV-Renten sowie einem «chèque fédéral» zur Unterstützung der Familien können wir uns als sehr reiches Land mit minimaler Verschuldung locker leisten. Nicht vergessen dürfen wir auch unsere humanitären Verpflichtungen gegenüber den Ländern Afrikas, denen eine Ernährungskrise droht. Über den nächsten Winter hinaus müssen wir uns mit massiven Investitionen in erneuerbare Energien von unserer Energieabhängigkeit befreien und möglichst schnell Verkehr, Wohnen und Wirtschaft dekarbonisieren.

Nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war europäischer Zusammenhalt so wichtig – und so offensichtlich auch im Interesse der Schweiz. Unsere Sicherheit ist nur in einem europäischen Zusammenhang möglich. Unsere internationale Glaubwürdigkeit und die Verlässlichkeit des Schweizer Rechtsstaats sterben, wenn wir angesichts von Putins Kriegsverbrechen auf Appeasement setzen. Gerade im Namen unserer aktiven Neutralität müssen wir Partei ergreifen: Für die Stärke des Rechts und gegen das Recht des Stärkeren.

Für die Ukraine, für ein freies und sicheres Europa und für unsere Glaubwürdigkeit als Schweiz brauchen wir mehr und nicht weniger europäischen Zusammenhalt. Was wir definitiv nicht brauchen, ist ein Bückling vor dem Aggressor.

Dieser Text ist am 1. Juli 2022 als Gastkommentar in der Zeitung Bündner Tagblatt erschienen.

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