Unser Land braucht familienfreundliche Reformen. Denn die Schweiz schneidet im europäischen Vergleich miserabel ab, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Das ist ein Hauptgrund für unseren Rückstand bei der Gleichstellung. Dagegen sind im letzten Jahr hunderttausende Frauen und einige solidarische Männer auf die Strasse gegangen.
Die Kinderbetreuung kostet viel zu viel, die Lohnungleichheit zwischen Frau und Mann ist noch immer stossend und uns fehlt eine gemeinsame Elternzeit. Deshalb arbeiten in zu vielen Fällen Väter Vollzeit und Mütter Teilzeit. Ob sie das nun ursprünglich gewollt haben oder nicht. Im Mutterschaftsurlaub, den die Frau weitgehend allein verbringt, verfestigen sich herkömmliche Muster. Die Mutter wird zur Erziehungsexpertin, der Vater bleibt familiäre Hilfskraft. Dies führt wiederum dazu, dass der Arbeitsmarkt Frauen benachteiligt, was zu Lohnungleichheit führt. Dieser Teufelskreis erfasst auch Familien, die sich eigentlich vorgenommen haben, eine gleichberechtigte Aufgabenteilung zu leben. Das Resultat ist Frust.
Am 27. September dürfen wir endlich wieder abstimmen. Bei zwei von fünf eidgenössischen Abstimmungen geht es um Familienpolitik.Leisten die Vorlage «Steuerliche Berücksichtigung von Kinderdrittbetreuungskosten» sowie der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub» einen Beitrag zum familienpolitischen Fortschritt? Die Antwort ist einfach: ein grosses Nein zur ersten und ein kleines Ja zur zweiten Vorlage.
Die steuerpolitische Reform, welche die Kinder- und Betreuungsabzüge auf der Bundessteuer massiv erhöhen würde, ist ein familienpolitischer Etikettenschwindel. Der Allgemeinheit würden jedes Jahr 370 Millionen Franken Einnahmen fehlen. Gelder, die direkt auf den Konten der reichsten Familien landen würde. Nur 6 Prozent (!) der Haushalte in der Schweiz würden von dieser Umverteilung profitieren. Denn damit sich die neuen Abzüge lohnen, müssen verheiratete Eltern mindestens 190’000 Franken verdienen, Paare im Konkubinat sogar 300’000 Franken. Bundesrat Ueli Maurer sprach im Parlament Klartext: «Sie entlasten hier weder den Mittelstand noch wirklich Familien, sondern Sie entlasten Haushalte mit hohen Einkommen». Wenn die Familien und die übrigen Steuerzahlenden diesen Schwindel durchschauen, hat die Vorlage keine Chance.
Was Familien wirklich brauchen, sind mehr bezahlbare Kinderbetreuungsangebote. Gerade für Familien der Mittelschicht sind die Betreuungskosten oft so hoch, dass sich grössere Arbeitspensen für Mütter nicht lohnen. Das verhindert gleichberechtigte Familienmodelle und verschwendet das berufliche Potential vieler Frauen.
Was Familien auch brauchen, ist eine gemeinsame Elternzeit. Sie schafft gleiche Bedingungen für Mütter und Väter – Zuhause und auf dem Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang sind die zwei Wochen Vaterschaftsurlaub, welche das Parlament als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative beschlossen hat, ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Er wird eine Mehrheit finden. Weitere Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind aber nötig. Sonst bleibt die Schweiz ein familienpolitisches Entwicklungsland.
Dieser Text ist am 15. Juli 2020 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.