Die grösste ungeklärte Frage der «Berner Politik» ist unser Verhältnis zu Europa. Spätestens seit dem bundesrätlichen Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen vor einem Jahr befindet sich die helvetische Politik diesbezüglich in einem gefährlichen Blindflug. Dabei spüren die Bürgerinnen und Bürger gerade in dieser Krisenzeit, wie wichtig Zusammenarbeit und Zusammenhalt in Europa auch für uns Schweizerinnen und Schweizer sind.

Putins verbrecherische Aggression gegen die Ukraine ist auch ein Angriff auf unsere gemeinsamen europäischen Werte. Umso wichtiger war und ist die gemeinsame Antwort Europas, der sich nach anfänglichem Zögern auch die Schweiz angeschlossen hat. Aber nicht nur Putins Krieg hat die geopolitische Lage fundamental verändert. Auch der Aufstieg des autokratischen China und die seit Trump offensichtlich gewordene Verletzlichkeit der US-Demokratie stellen riesige Herausforderungen dar, die von unseren europäischen Demokratien nur vereinigt gemeistert werden können. Und auch Menschheitsprobleme wie die Klimakrise, die Ungleichheit oder die Übermacht der Konzerne erfordern europäische Lösungen.

Vor diesem Hintergrund durfte ich in den letzten Monaten eine SP-Arbeitsgruppe leiten, die eine europapolitische Strategie entwickelt hat. Dieser unlängst publizierte Europa-Plan sieht drei Phasen vor.

Erstens: Die Verhandlung eines befristeten Stabilisierungsabkommens mit der EU, das die Schweizer Teilnahme an verschiedenen EU-Programmen in den Bereichen Forschung, Bildung oder Kultur regelt (Erasmus, Horizon, etc.). Im Gegenzug verpflichtet sich die Schweiz ihren Beitrag für die Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichheiten zu erhöhen und die Verhandlungen über die Regeln zur Teilnahme am EU-Binnenmarkt wieder aufzunehmen. Ein solches Abkommen sollte bis Ende 2023 vorliegen. Am 13. Juni stimmt der Nationalrat über einen Vorschlag der Aussenpolitischen Kommission ab, die den Bundesrat zu genau diesem Schritt verpflichten will.

Zweitens: Die Verhandlung eines Wirtschaftsabkommens, das die institutionellen Marktzugangsfragen im Sinne einer Assoziierung regelt. Dieses Abkommen sollte bis 2027 stehen, was im Sinne einer Garantie gegenüber der EU so auch im Stabilisierungsabkommen zu vereinbaren ist. Für die innenpolitische Abstützung und Legitimation dieses Assoziierungsprozesses sollen dessen Rahmenbedingungen in einem Europagesetz geregelt werden. Einer entsprechenden parlamentarischen Initiative aus der SP-Küche hat der Nationalrat an der letzten Session bereits zugestimmt. Nun liegt der Ball beim Ständerat.

Drittens: Ab 2027 will die SP auf Basis des vorher geregelten Verhältnisses mit der EU ergebnisoffen über den Beitritt der Schweiz verhandeln. So könnte unser Land endlich dort mitbestimmen, wo die Politik in und für Europa im 21. Jahrhundert entschieden wird. Echte Souveränität gibt es heute nämlich nur mit internationaler Mitbestimmung, wobei die EU die wichtigste Plattform in Europa bietet. Nur sie schafft die Möglichkeit, dass unsere kleinen europäischen Demokratien nicht von Supermächten oder Grosskonzernen gegeneinander ausgespielt werden. Nur die EU hält unseren Kontinent zusammen und unsere gemeinsamen Werte hoch!

Dieser Text ist am 1. Juni 2022 als Kolumne in der Südostschweiz erschienen.

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